Heute morgen hat mich eine Whatsapp-Nachricht mit Bildanhang von unbekanntem Sender geweckt. Mein erster Gedanke war: Vorsicht, nicht öffnen. Es könnte ein Trojaner oder eine Spyware dahinter stecken. Der Absender hatte die Ländervorwahl +98, die mir schnell bekannt vorkam und mich gleich auf eine richtige Fährte brachte: die Nachricht kam aus dem Iran. Whatsapp-Nachrichten aus dem Iran sind zwar momentan nicht gerade etwas alltägliches — aber ich vermutete sofort einen Bekannten aus meiner Zeit im International Office dahinter. Also drückte ich doch auf den Info-Button, und es zeigte sich, dass hinter der Nachricht ein befreundeter Professor steckte, den ich fortan beim Alias-Namen Herr Rezaei nennen will. Wir kennen uns seit seinem Aufenthalt als Gastwissenschaftler in Berlin, was zirka zehn Jahre her ist. Seitdem sind wir per Email im Kontakt geblieben, und er muss meine aktuelle Telefonnummer in der Signatur meiner letzten Email gesehen haben.
In seinem Beruf erforscht Herr Rezaei, wie man die fortschreitende Desertifikation seines über weite Strecken hyperariden Landes bekämpfen kann. Seine Universität liegt quasi direkt am Rand einer Wüste, die zu den heißesten Gegenden der Erde zählt. Der Klimawandel hält uns alle in seinem Bann, in je eigenem Ausmaß — und er ist ein durch und durch weltliches Phänomen, das ohne Ansinnen über Spiritualität händelbar sein sollte.
Aber kommen wir zum Bild-Anhang: als ich ihn öffnete, sah ich einen internationalen Gruß zum Beginn des islamischen Fastenmonats Ramadan: رمضان كريم / Ramadan Karim.
Doch warum sollte diese nicht wirklich ungewöhnliche Nachricht in diesem Kontext überhaupt der Rede wert sein?
Erstens halte ich diese Korrespondenz zwischen zwei Menschen unterschiedlicher spiritueller Sozialisierung aus unterschiedlichen Gegenden der Welt, deren Bekanntschaft auf der sehr profanen Grundlage des internationalen Wissenschaftsaustauschs fußt, für erwähnenswert, weil positivistische Wissenschaftspraxis (wie die Forschungsarbeit in Desertifikationsprozessen) und spirituelle Achtsamkeitspraxis (wie das Praktizieren einer spirituell-religiös aufgeladenen Fastenzeit) einander nicht ausschließen müssen. Genau das wird aber nach wie vor oft als etwas Gegensätzliches angesehen, gerade in einem inzwischen altmodisch werdenden, westlichen Denkhabitus der Ersten Moderne. So käme mir nicht in den Sinn, deutschen oder französischen Kolleg:innen aus dem Bereich der Geistes- und Sozialwissenschaften — von denen ich implizit einen hohen Grad der Entfernung von traditionell-spirituellen Praktiken vorausannehme — zu Ostern, Eid/Bayram, Rosch ha-Schana, Holi oder anderen religiös markierten Festen eine Email oder eine andere Nachricht mit Feiertagsgrüßen zuzuschicken. Das stark säkularisierte Weihnachten, das teilweise bis zur Unkenntlichkeit mit dem Jahreswechsel verwachsen ist — bildet eine Ausnahme, auch zwischen den International Offices der internationalen Hochschullandschaft zwischen Berlin, Teheran, Pune und Hong Kong: Die Seasonal Greetings sind scheinbar etwas anderes, denn sie werden von allen exzessiv verschickt. Aber ganz bestimmt fiele es heute kaum jemandem ein, Glückwünsche zu einer der anderen Fastenzeiten zu versenden.
Doch warum ist das eigentlich so — obwohl Fasten in jeder spirituellen Praxis existiert, und zunehmend auch in säkularen oder zumindest unmarkierten Praktiken wie Achtsamkeit? Ich finde, dass gerade dem Fasten in unserer Zeit größeres Gewicht eingeräumt bekommen sollte. Mit unserer Zeit ist natürlich eine ortsgebundene, situative Zeit gemeint, die sich andernorts, etwa im globalen Süden, anders beschreiben ließe. Unsere Zeit an unserem Ort, nämlich in Europa, im globalen Norden und Westen, in den Ländern des Wohlstands — wozu auch nicht-nördliche, nicht-westliche Länder wie die Golfstaaten oder China gehören — ist bekanntlich gerade davon gekennzeichnet, dass zuviel an Allem herrscht. Zumindest noch.
Es wird überproduziert und überkonsumiert. Es gibt 1-Euro-Shops und Klamottenrampen, weil das ganze unnütze Zeug aus irgendwelchen Sweatshops und Industriehöllen verhökert werden muss. Die Wirtschaft muss wachsen — und wenn sie es nicht tut, wird das kritisch in der Tagesschau besprochen, auch wenn der Mediziner Eckart von Hirschhausen diese metaphorische Fehlleistung treffenderweise mit Krebs verglichen hat:
Als Arzt erkennt man vielleicht schneller, warum die Idee von einem ständigen Wirtschaftswachstum im Kern krank ist, denn das ist wie Krebs: Wachsen auf Kosten der Umgebung, alle Ressourcen für sich bunkern und dann noch das Leben töten, das einen nährt. So doof muss eine Zelle erstmal sein. Und bösartig. Es gibt im menschlichen Organismus nichts, was dauerhaft auf Wachstum angelegt ist. Selbst die meisten Parasiten und Krankheitserreger sind so schlau, ihr Wachstum so zu dosieren, dass sie ihren Wirt nicht umbringen, sondern mit einander weiterleben können.
Eckart von Hirschhausen: Machen Sie mit bei den Demos! Schenken Sie der Erde Ihre Zeit!, in: Tagesspiegel vom 19.9.2019.
Es gibt Lebensmitteldiscounter mit Niedrigstpreisen, für Qualfleisch und Fertiggerichte, sodass Übergewicht in unserer Zeit paradoxerweise oft als Chiffre für Armut gelesen wird. Es herrscht Verschmutzung durch all das zuviel: zuviel Wärme, zuviel Licht, zuviel Information, zuviel Gift, zuviel CO2, zuviel Essen, zuviel Kleidung, zuviel… an Allem.
Wie könnte man sich über all das besser klar werden, als über eine persönliche Fastenpraxis? Ich frage mich daher, ob die Praxis des Fastens nicht eine Würdigung als sogenanntes awareness raising (Bewusstseinsförderung) in geopolitischer Verstrickung verdient hätte: Ist es nicht so, dass über den temporären Ausstieg aus der Verstrickung des gewohnten Denkens, durch die vorübergehende Aufkündigung des Konsummusters, das Bewusstsein gefördert werden könnte, was grundsätzlich und systemisch — und zwar in verheerenden Ausmaßen — falsch läuft?
Als Umkehrschluss könnte man fragen: welche Entwicklungschance haben wir als globale — das heißt: als global und zutiefst ungerecht verstrickte — Schicksalgemeinschaft eigentlich, wenn wir es nicht auf friedliche und selbstbestimmte, achtsame Weise hinbekommen, unser Strickmuster aufzutrennen, um endlich an einem neuen Plot, an einer neuen Story zu arbeiten?
Zweitens ist mir in diesem Zusammenhang aufgefallen, dass mich das sich zuschicken von Feiertagsnachrichten und -Glückwünschen stark an den Balkan erinnert, auch wenn die Analogie hier vielleicht etwas holprig ist. Besser gesagt denke ich an das ehemalige Jugoslawien, an Bosnien-Herzegowina und die bereits thematisierte, erprobte Differenzgemeinschaft. Alle, die auf Werbeplattformen wie Facebook mit Verwandtschaft, Freund:innen und Bekannten aus Bosnien-Herzegowina zu tun haben — oder auch, wie ich früher, in International Offices an Universitäten mit Partner:innen aus der Region zusammengearbeitet haben — werden ganz genau wissen, was ich meine. Es hält sich ja einerseits das weit verbreitete Vorurteil, auf dem Balkan würden sich die Menschen seit langer Zeit aufgrund ihrer unterschiedlichen Konfessionen und Religionen gegenseitig „hassen“. Doch andererseits widerlegt die soziale Praxis dieses Vorurteil sehr oft: gerade auf Online Werbeplattformen wie Facebook scheinen sich die Leute das Jahr hindurch geradezu damit übertrumpfen zu wollen, wer zuvorkommender an die Feiertage der jeweils „Anderen“ denkt und ihnen dazu gratuliert.
Čestit Božić svim komšijama i prijateljima katoličke vjeroispovijesti! wird im Krivaja-Tal und andernorts seitens der muslimischen Nachbarn den Katholik:innen gewünscht: Feierliches Weihnachten allen Nachbarn und Freunden katholischen Glaubensbekenntnisses!.
Bajram mubarek olsun svim komšijama i prijateljima islamske vjeroispovijesti! oder auch Bajram bar[e]ćula — letzteres eine volkstümliche Verballhornung von Mübarek ola — grüßen die katholischen Nachbarn zu Bajram zurück: Gesegnetes Bajram allen Nachbarn und Freunden islamischen Glaubensbekenntnisses oder Gesegnetes Bajramfest.
Wie gesagt: der Vergleich zum Balkan hinkt etwas, denn im Fall des Grußes von Herrn Rezaei handelt es sich nicht um ein Grüßen des Anderen zu seinem gehörigen Feiertagsanlass. Ich gehe einmal davon aus, dass Herr Rezaei weiß, dass ich nicht-muslimisch bin, nachdem er mir in der Vergangenheit auch schon zu Weihnachten Glückwünsche gesendet hatte. Er schreibt mich nämlich jährlich an Weihnachten an, um mich zu beglückwünschen — und ich bin immer aufs Neue verlegen, weil ich es so oft vergesse, ihm und anderen iranischen, kurdischen und zentralasiatischen Bekannten im Gegenzug zu den persischen (bzw. kurdischen, zentralasiatischen, türkischen) Feiertagen zu gratulieren. In den Zeiten des International Office war ich da noch achtsamer — auch die indischen Feiertage wie Holi und Diwali waren damals fest im Kalender verankert. Vor kurzem waren Herr Rezaei und ich wieder in Kontakt gekommen, nachdem er mich mit einer Bitte um Weiterleitung einer Einladung angeschrieben hatte. Da gerade auch Newroz anstand, das persische Neujahrsfest, das an der Tagundnachtgleiche des 21. März. begangen wird, habe ich es diesmal endlich geschafft — mit nur leichter Verspätung! — ihn zu beglückwünschen. Ich weiß nicht, wie sehr mir die Komposition gelungen ist oder nicht, aber ich dachte, mit einem Blütenmotiv zum Frühjahrsanfang kann ja grundsätzlich nicht so viel schief gehen. Wie man es auch drehen und wenden mag: anlässlich religiös markierter Feiertage Kontakt zueinander aufzunehmen, kann schon an und für sich eine kommunikative Funktion übernehmen. Dafür muss aber ein grundsätzliches Wissen um die Feiertage der Anderen bestehen.
Es gibt aber noch einen dritten Grund, warum ich den Gruß zum Fastenmonat bemerkenswert finde: es gibt gerade gewissermaßen eine Koinzidenz der Fastenanlässe. Es hat nämlich nicht nur der muslimische Fastenmonat Ramadan (türk. und bosn. Ramazan) begonnen, sondern wir befinden uns auch weiterhin in der vorösterlichen Fastenzeit der christlichen Westkirchen. Ich bin zwar schon lange kein Mitglied einer christlichen Glaubensgemeinschaft mehr, nachdem ich evangelisch sozialisiert worden war; trotzdem kenne ich mich natürlich weiterhin mit der Bibel und den christlichen Traditionen relativ gut aus, und ich kann wahrscheinlich sogar behaupten, dass ich im Präparanden- und Konfirmandenunterricht einen sehr guten Lehrer für die intensive Auseinandersetzung mit den christlichen Texten hatte. Dennoch faste auch ich gerade selbst wieder: Heute ist schon Tag 26 von 40, den ich ohne feste Nahrung erlebe. Ich nehme nur Flüssigkeiten zu mir. Es geht mir sehr gut — oder zumindest sehr viel besser als vor vier Wochen, nachdem ich wegen einer erneuten Absage in eine depressive Phase gerutscht war; der Kriegsausbruch mit seiner dystopischen Stimmung hat es nicht gerade besser gemacht. Heute fühlt sich meine Haut 20 Jahre jünger an, und ich trage inzwischen auch viel weniger viszerales Bauchfett mit mir herum.
Aus praktischen (beruflichen) Gründen schaffe ich es leider nicht, auch den Medienkonsum mit zu fasten: Das geht leider nicht, denn ich muss aus beruflichen Gründen die Kriegsdiskurse und das Gebärden der neopopulistischen, illiberalen und männerischen Regime verfolgen und aufzeichnen. Doch mein Eindruck ist, dass ich durch das Fasten auch in dieser Hinsicht viel klarer denken und sortieren kann — auch wenn die drohende Dimension der eskalativen Logik der genannten Regime durch das Fasten natürlich keineswegs geringer erscheint. Das wäre ja auch kontraproduktiv: der Gefahr muss möglichst klar entgegengeblickt werden. Genau das wird aber durch Verstrickungen des Denkens oft genug verhindert, wie inzwischen allenthalben eingeräumt wird, wenn es im öffentlichen Diskurs um die systemisch ignorierten Warnungen vor der „neoliberalen“ illiberalen Gefahr geht.
Dass durch die Entbindung vom Gang zum Kühlregal im Lebensmitteldiscounter der Geist erklart, erscheint mir logisch: wieso sollte nicht auch die imaginative und kognitive Kraft des menschlichen Gehirns von der Umstellung des gesamten Stoffwechsels betroffen sein? Von einem Einfluss des Stoffwechsels auf die Gehrinfunktionen kann jedenfalls auch aus positivistisch-medizinischer Sicht kein Zweifel bestehen. Ich kann für mich sagen, dass mich schon meine erste lange Fastenzeit 2018, die ich noch viel strenger praktiziert habe als die jetzige, aus einer Krise befreit hat, die ebenfalls mit problematischen Verstrickungen des Denkens zu tun hatte: ich war an einem ausgesprochenen Krisenpunkt im Schreibprozess meiner Dissertation angekommen. Obwohl ich glaubte, ein relativ routinierter Schreiber zu sein, drohte sogar der Schreibabbruch. Ich habe dabei nämlich etwas sehr persönliches erkannt, und ein Knoten des verstrickten Denkens hat sich über die Kraftwirkung des Fastens lösen können. Zumindest allmählich.
Ich habe vor, noch einige andere Fastende nach ihren Erfahrungen befragen. Ein türkischer und ein bosnischer Freund haben schon zugesagt, ihre Erfahrung mit dem Fasten für das Hermannova-Projekt zu teilen. Bis es soweit ist und das Thema vertieft werden kann, dachte ich mir, dass es nicht schaden könne, einen sehr wichtigen Film zu empfehlen, den Arte jährlich in der (christlichen) Fastenzeit in seiner Mediathek zur Verfügung stellt. Es ist eine Doku über das Heilfasten, die ich sehr hilfreich und motivierend finde. Auch dieser Film erinnert daran, dass Fasten eine körperliche und spirituelle Praxis ist, die in vielen überlieferten und auch neukomponierten Traditionen existiert. Durch den wissenschaftlichen Ansatz kann die Doku außerdem hoffentlich dazu beitragen, dass Fastende nicht vorauseilend über die Sinnlosigkeit ihres Tuns belehrt oder ob ihrer spirituellen Ziele belächelt werden.
https://www.arte.tv/de/videos/043980-000-A/fasten-und-heilen/
Referenzen
Eckart von Hirschhausen: Machen Sie mit bei den Demos! Schenken Sie der Erde Ihre Zeit!, in: Tagesspiegel vom 19.9.2019, URL: https://www.tagesspiegel.de/politik/klimaaktivist-von-hirschhausen-machen-sie-mit-bei-den-demos-schenken-sie-der-erde-ihre-zeit/25029124.html (zuletzt abgerufen am 14.5.2022).