Erprobte Differenzgemeinschaft

Ein völlig anderes Bild als das superdiverse, kosmopolitische Neukölln bietet dagegen das Tal der Krivaja in Bosnien-Herzegowina: es ist vollkommen ländlich geprägt. Auch wenn die bosnische Hauptstadt Sarajevo nur knapp 80 Kilometer entfernt liegt, erscheint sie im Alltag der Talbewohner:innen durch die Infrastruktur und Verkehrsanbindung weit weg. Im Gegensatz zu Neukölln verirren sich keine Immigrant:innen dauerhaft in das Tal am naturbelassenen Fluss: Bosnien stellt für MigrantInnen der Balkanroute eine Sackgasse an der EU-Außengrenze dar, von wo sie möglichst schnell wieder weg möchten. Doch auch die etablierte, bosnische Bevölkerung zieht es weg aus dem Tal, und so sind alle Dörfer stark von Abwanderung betroffen. Ganze Schulklassen bleiben leer, alte und pflegebedürftigte Bewohner:innen finden kein Pflegepersonal, weil ganze Generationskohorten und Berufsklassen ins Ausland gezogen sind. Die Wanderziele liegen fast immer in den wirtschaftlich prosperierenderen, politisch stabileren Staaten der nahe gelegenen Europäischen Union.

Viele der Gründe für die mangelnde Attraktivität und den niedrigen Lebensstandard in Bosnien sind im vierjährigen Krieg der 1990er Jahre zu suchen. Indem identitäre, populistische Strömungen zu den Waffen gerufen hatten, löste sich das politische Gemeinwesen Jugoslawiens auf blutige Weise auf. Genau wie das ganze, zerfallene Land im Großen, so kann Bosnien im Kleinen — auch heute noch — als eine „erprobte Differenzgemeinschaft“ betrachtet werden: drei Nationen (Bosniaken, Serben und Kroaten) gelten als konstitutiv, obwohl das Land streng genommen gar keine Konstitution hat und administrativ extrem fragmentiert ist. Neben diesen Hauptgruppen gibt es Rom:nija, Jugoslaw:innen, Albaner:innen, Tschech:innen, Karavlasi und andere. Die zahlenmäßig größte Gruppe der Bosniak:innen ist traditionell muslimischen Glaubens, die Serb:innen sind orthodoxe Christ:innen, und die Kroat:innen sind katholisch; Rom:nija gibt es unter allen Religionsgemeinschaften. Auf den Begräbnisstätten zeugen aber auch Grabsteine mit dem roten Fünfzack aus der sozialistischen Zeit davon, dass die traditionelle Glaubensgemeinschaft nicht immer eine übergeordnete Rolle spielt.

Das Tal der Krivaja zwischen den Kleinstädten Olovo und Zavidovići im Kanton Zenica-Doboj der (muslimisch-kroatischen) Föderation Bosnien-Herzegowinas bietet in vielerlei Hinsicht ein Abbild sowohl des alten Bosniens in jugoslawischer Zeit, als auch der ethnischen Fragmentierung durch den Krieg: zwischen der engen Olovo-Schlucht am Oberlauf und dem Dorf Stipin Han am Unterlauf der Krivaja blieb das Tal von direkten Kriegshandlungen weitestgehend verschont; die Dörfer wurden nicht zerstört. Zwischen den Dörfern Predražići, Ribnica und Vozuća jedoch war das Gebiet zwischen der bosnisch-serbischen Armee und muslimisch-kroatischen Armeeeinheiten umkämpft, und mit dem Abzug der serbischen Truppen ist es auch zu Vertreibungen bzw. Abwanderung der serbisch-orthodoxen Bevölkerung gekommen.

Die verbliebene Bevölkerung, besonders in den nicht von Kriegshandlungen direkt betroffenen Gebieten, lebt seit Generationen im Bewusstsein um ihre religiös markierten Differenzen miteinander, und in vielerlei Hinsicht auch oft eher nebeneinander. Soziale Praktiken wie Namensgebung, Heirat, Beerdingungsrituale, Liturgie/religiöse Praxis, Speisegebote werden grundsätzlich endogam praktiziert. Dennoch haben sich auch Kulturformen zwischen den VertreterInnen unterschiedlicher Gruppen herausgebildet: ob durch wechselseitige Feiertagsbesuche, wirtschaftlichen Austausch, gemeinsamen Schulbesuch, kulturelle Veranstaltungen mit Reigen (kolo), interethnische Patenschaften (kumstvo), Brautentführungen, Konversionen, gemeinsame Produktion von Teppichen (ćilim) mit geteilten Webmustern, gemeinsame kulinarische, musikalische oder andere Praktiken. Zu dieser erprobten Differenzgemeinschaft von Bosniak:innen, Kroat:innen, Serb:innen, Rom:nija, Karavlasi und Anderen gehörte immer auch das Austragen, der Umgang und das Vermeiden von Konflikten. Ob in Form der Konfliktvermeidung durch besondere Achtung und Pflege von Nachbarschaft (komšiluk), ob in ritualisierter oder spontaner Konfliktaustragung, oder in der Entwicklung sprachlicher Strategien der „Ironisierung des Alltags“, wie der bosnisch-herzegowinische Anthropologe Nebojša Šavija-Valha es bezeichnet hat: die Gesellschaft Bosnien-Herzegowinas konnte sich in historischer Erfahrung erproben.