Identitäre Herausforderung

Wir leben in Zeiten des Umbruchs: alte Gewissheiten schwinden, die bipolar vorgestellte Ordnung der geopolitischen Machtverhältnisse ist aufgelöst und gleichzeitig wächst die Erde immer enger zusammen. Globalisierung, Kosmopolitisierung und Digitalisierung bergen große Chancen — aber auch neue Herausforderungen und Gefahren. Während Teile der bewohnten Erde in absehbarer Zeit Teil der inhabitablen Zone werden, müssen sich andere Gebiete auf weitere Zuwanderung vorbereiten.

Während diese Entwicklungen durch die Naturwissenschaften minutiös erforscht werden und keinerlei Geheimwissen darstellen, reagieren viele Institutionen des Nationalstaats mit inhärenter Trägheit. Ein beträchtlicher Teil der öffentlichen Meinungen bäumt sich gegen die empfundene „Unordnung“ auf: identitäre, neopopulistische Bewegungen haben von den USA über die Philippinen, Indien, die Türkei, Ungarn und weitere Länder (zumindest vorübergehend) die politische Gestaltungshoheit übernommen, nachdem sie sich mit Versprechungen nach Rückkehr zu ursprünglicheren, übersichtlicheren und homogeneren Verhältnissen politische Zustimmung verschaffen konnten.

Diese Regime können dabei jedoch keine brauchbaren Antworten oder Lösungen liefern, wenn es darum geht, einen Weg zum friedvollen Zusammenleben unter den skizzierten Bedingungen zu finden; außerdem schicken sie sich an, liberale, demokratische Formen der Gesellschaftsordnung zu demontieren. Auch in Deutschland verzeichnen die neue Rechte und identitäre Bewegungen Zulauf: besonders, seit sich die neuen, großen Flucht- und Migrationsbewegungen mit der „Balkanroute“ 2015 einen Weg in das öffentliche Bewusstsein gebahnt haben. Die Reaktionen auf die globale Covid19-Pandemie haben gezeigt, dass irrationale, wissenschaftsfeindlich, emotional getriebene Bewegungen eine ernstzunehmende Kraft sind, die sich mit der Vertiefung von Krisen noch vergrößert.