Ungewürdigte Vielfalt

Der Bezirk Neukölln der deutschen Hauptstadt Berlin ist auch vielen Menschen von außerhalb durch die überwiegend negative Medienpräsenz ein Begriff, obwohl sie selbst noch nie vor Ort waren. Neukölln ist schon immer ein Arbeiterbezirk, ein Ort der Zuwanderung und des Zusammenlebens unterschiedlicher Menschen gewesen: hier werden neben Deutsch zahlreiche andere Sprachen wie Türkisch, Russisch, Polnisch, Arabisch, Serbokroatisch/Jezik*, Vietnamesisch u.a. gesprochen. Im Laufe des 20. Jahrhunderts bewirkten die wirtschaftlichen und sozialen Begleitumstände und Entwicklungen, dass in Neukölln sogenannte „soziale Brennpunkte“ entstanden sind: dadurch geriet der Bezirk immer wieder in die Schlagzeilen, und es wurde der stereotypische Eindruck geprägt, Migration und soziale Brennpunktbildung hingen unweigerlich zusammen. 

Doch neben den existierenden, sozialen Härten ist Neukölln für viele EinwohnerInnen ein wertgeschätzter, kosmopolitischer und kreativer Wohnort: ein neuer Zuzug von internationalen Studierenden, sogenannten Expats, Kulturschaffenden und Vertreter:innen der Tech-Branche hat eingesetzt und den Bezirk sowie seine sprachliche Landschaft erneut verändert. Obwohl viele dieser oft englischsprachigen Neu-NeuköllnerInnen nicht wohlhabend sind und die Gründe für den berüchtigten Mietkostenanstieg in der deregulierten Immobilienbranche zu suchen sind, nehmen andere NeuköllnerInnen diese Entwicklung unter dem Begriff der Gentrifizierung mit gemischten Gefühlen auf.

In der Gegenwart zeigen sich die Veränderungen, je nach Perspektive, äußerst ambivalent: viele Neu-Neuköllnerinnen und einige Alteingesessene empfinden die Öffnung neuer Restaurants, Läden, Veranstaltungsorte und die belebteren Straßen und Freizeitanlagen als Bereicherung. Sie verwenden selbstverständlich Englisch als Lingua Franca, und sie sehen Neukölln als einen Ort, wo sie alternative, queere Lebenskonzepte umsetzen können. Viele einkommensschwache, aber etablierte Bewohner:innen profitieren dagegen nicht von den Veränderungen. Und auch ihre nichtdeutschen Sprachen, ihre Gebräuche und Glaubensvorstellungen wurden und werden selten öffentlich gewürdigt, obwohl sie seit vielen Jahrzehnten den Alltag in Neukölln bestimmen und das Stadtbild prägen. Obwohl Diversität, interkulturelle Kompetenz und Mehrsprachigkeit heute gefragte Eigenschaften in zahlreichen Stellenausschreibungen sind und damit gewertschätzt werden, muss in der sozialen Wirklichkeit Neuköllns oft von ungewürdigter Vielfalt die Rede sein.